Das Thema „2G, 3G und Gottesdienste“ treibt Gemeinden und Christen im Kontext der aktuell wütenden vierten Corona-Welle wieder verstärkt herum. 2G und 3G werden für immer mehr Orte und Veranstaltungen zur Zugangsvoraussetzung. Und obwohl es manche Bundesländer gibt, die 3G auch für Gottesdienste verlangen, bleibt diese Frage in den meisten Bundesländern komplett den Gemeinden überlassen.
So ist jede Gemeinde vor die Frage gestellt, selbst zu entscheiden, ob und welche Zugangsbeschränkungen man für die Gottesdienste festlegt.
Natürlich entbrennt über diese Herausforderung die Frage, ob eine Gemeinde überhaupt das Recht habe, so eine Beschränkung festzulegen. Ich habe letztens eine lange „Hilfestellung“ einer Gemeinde gelesen, die sich vornehmlich zum Thema „Impfung“ äußert, dabei aber auch das Thema 2G/3G anspricht.1 Die Autoren der „Hilfestellung“ machen deutlich, dass Gemeindeleitungen gar nicht das Recht hätten, sich dem Staat zu beugen und einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verwehren.
Wie so oft bei komplexen ethischen und theologischen Fragestellung, besteht die Gefahr, dass ein Thema unterkomplex kommuniziert wird und die verschiedenen Ebenen, die auseinander gehalten werden sollten, zu vorschnell zusammengeworfen werden.
Ich beschäftige mich mit dieser Frage auf diesem Weg, weil ich als Pastor natürlich auch herausgefordert gewesen bin, mich zu fragen: Dürften wir das überhaupt oder nicht? Hätten wir das Recht dazu, Gläubigen den Zugang zum Gottesdienst zu erschweren (3G) oder u.U. ganz unmöglich zu machen (2G)?
Ich lasse hierbei bewusst den Aspekt außen vor, dass der Zugang zum Gottesdienst über Livestreams in einer gewissen Form ja dennoch möglich ist.
An dieser Stelle möchte ich auch betonen, dass es mir nicht darum geht, die Frage zu beantworten, ob eine Gemeinde 3G oder gar 2G einführen sollte. Es geht nur darum, ob eine Gemeinde überhaupt das Recht dazu hätte, solche Einschränkungen vorzunehmen. Diese zwei Ebenen auseinanderzuhalten ist extrem wichtig in meinen Augen.
Ich beobachte, dass manche Stellungnahmen aus Ablehnung der aktuellen Corona-Maßnahmen heraus ganz allgemein jede Art von Zugangsbeschränkungen für nicht mit der Bibel vereinbar erklären. Wenn das so wäre, dann wären 2G und 3G tatsächlich keine Option. Wenn es aber grundsätzlich sehr wohl die Möglichkeit gibt, den Zugang zum Gottesdienst zu beschränken, dann hat jede Gemeinde die Freiheit und Verantwortung für sich diese Fragen in der konkreten, aktuellen Situation zu beantworten.
Wenn ich mir über ethische und theologische Fragestellungen Gedanken mache, dann versuche ich mir immer zu überlegen: Was passiert, wenn ich diesen Gedankengang in sein Extrem führe? Das hilft mir, nicht in die Falle zu tappen, Entscheidungen für eine konkrete Situation in einer Breite zu beantworten, dass daraus ungewollte Nebenwirkungen auf anderen Feldern entstehen.
Die Proposition derjenigen, die Zugangsbeschränkungen grundsätzlich ablehnen, könnte so aussehen:
Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern
Diese Aussage ist auch in verschiedenen Abstufungen und Variationen denkbar:
Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern oder zu erschweren
Oder:
Eine Gemeinde hat kein Recht sich einer staatlichen Verordnung zu beugen, die sie anweist, Gläubigen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern oder zu erschweren
Ich bleibe zunächst mal bei der allgemeinsten und weitreichendsten Formulierung „Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern“.
Das dieser Satz in dieser extremen Form so nicht zu halten ist, lässt sich anhand verschiedener praktischer Fallbeispiele schnell aufweisen. Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es sich bewusst teilweise um extrem überspitzte Beispiele handelt. Aber sehr allgemein formulierte Präpositionen müssen sich eben auch bis in die extremen Fallbeispiele hinein bewähren, wenn sie valide sein wollen.
Fallbeispiel 1: Nehmen wir an, ein Mitglied einer Gemeinde erkrankt an Krankheit, die extrem infektiös ist und bei Infektion immer tödlich verläuft, wenn auch vielleicht mit einiger zeitlicher Verzögerung zwischen Infektion, Ausbruch und Todeszeitpunkt. Dürfte eine Gemeinde so einem Menschen den Zugang zum Gottesdienst verwehren, wenn man von seiner Infektion erfahren hat, mit dem Hinweis darauf, dass seine Gegenwart eine existentielle Gefahr für alle Besucher des Gottesdienst darstellt?
Fallbeispiel 2: Ein Christ fällt während des Gottesdienstes durch extrem störendes Verhalten auf; der Besucher fällt durch Zwischenrufe auf und es ist klar, dass diese Verhalten bewusst darauf zielt, den Gottesdienst zu stören.
Fallbeispiel 3: Ein Christ hat einen anderen Christen grenzwertig psychisch und seelisch unter Druck gesetzt. Der so geschädigte Christ ist extrem verunsichert, hat die Gemeindeleitung einbezogen in die Situation, die die Vorwürfe untersucht und als bestätigt sieht, traut sich aber dennoch in den Gottesdienst. Jetzt will aber auch derjenige in den Gottesdienst kommen, der diesen seelischen Druck ausgeübt hat, ohne ein Gespür für das eigene Verhalten zu haben.
Alleine Fallbeispiel 1 sollte jedem klar machen, dass die extrem allgemeine Formulierung „Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern“ so nicht zu halten ist. Wenn von einer Person eine faktische Gefahr für die anderen Besucher des Gottesdienstes ausgeht, hat die Gemeindeleitung nicht nur das Recht sondern u.U. auch die Pflicht, diesem Menschen den Zugang zum Gottesdienst zu verwehren. Die anderen beiden Fallbeispiele zeigen auf, dass dieser Grundsatz nicht nur für den sehr engen Bereich der medizinischen Risiken Anwendung finden könnte.
Das ist jetzt erst einmal eine rein philosophische Betrachtung dieses Themas. Gibt es aber auch biblisch-theologische Hinweise, diese Sicht der Dinge bestätigen? Ich denke, die gibt es tatsächlich.
Ein Hauptzeuge für diese Sicht der Dinge ist das 3. Buch Mose „Leviticus“. Einen wichtigen Teil dieses Buches nimmt die Einsortierung von Krankheiten, ethischen Verhaltensweisen etc. in „rein“ und „unrein“. Dieses Thema für sich ist bereits sehr komplex, darauf muss an dieser Stelle deutlich hingewiesen werden. Es fallen viele verschiedene Bereiche hier hinein, die bei oberflächlicher Betrachtung scheinbar nichts miteinander zu tun zu haben.
Ich greife exemplarisch einen Themenbereich heraus, der medizinische Fragen berührt, weil es direkt unsere Fragestellung berührt.
In Lev. 13,3–46 wird ausführlich über den Umgang mit Hautkrankheiten gesprochen. Auch hier gibt es wiederum viele Details, die man betrachten könnte, wenn man genau verstehen will, was genau hier warum passiert. Den Raum dafür haben wir nicht. Klar ist, dass der Text nicht ein modernes Verständnis von Infektionskrankheiten zugrunde legt. Es ist also nicht oder nicht ausschließlich die Frage der Ansteckungsgefahr, die definiert, ob jemand aufgrund medizinischer Auffälligkeiten als „rein“ oder „unrein“ eingestuft wird. Trotzdem öffnen diese Texte den Raum dafür, dass es in Gottes Augen Gründe dafür geben kann, dass ein Mensch vom Zugang zum Gottesdienst ausgeschlossen wird. Und das es genau darum geht, macht eine Anekdote aus Num 9,5-11 deutlich. Dort haben Männer eine Leiche berührt und durften deshalb nicht am Passah-Fest teilnehmen, weil sie „unrein“ geworden sind. Diese Männer beschweren sich, wieso sie nicht an der Feier teilnehmen können, nur weil sie einen Toten berührt haben. Gott bestätigt durch Mose das Verbot der Teilnahme, verweist aber auf einen alternativen Termin, an dem sie das Fest nachfeiern können.
Natürlich kann man darauf verweisen, dass es sich hier um alttestamentliche Gebote handelt, die keine direkte Gültigkeit für die neutestamentliche Gemeinde besitzen. Das ist richtig. Indirekt aber finden wir hier dennoch Präzedenzfälle vor, die aufzeigen, dass die Teilnahme am gemeinsamen Gottesdienst kein absolut unantastbares Recht des Gläubigen ist. Und zusammen mit den philosophischen Überlegungen anhand der Fallbeispiele, liegen uns zwei Indizien-Beweise vor, die dafür sprechen, dass die absolute Aussage „Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern“ einer gründlicheren Betrachtung nicht standhält. Zumindest müssten die Befürworter dieser Präposition auf diese Einwände eingehen und diese sachlich widerlegen, wenn sie an dieser Proposition in dieser Form festhalten wollen.
Zwischenfazit
Die Aussage „Eine Gemeinde hat kein Recht einem Christen den Zugang zum Gottesdienst zu verweigern“ ist aus meiner Sicht weder philosophisch nicht biblisch-theologisch in dieser Form haltbar. Es können Situationen entstehen, die die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit erzeugen, bestimmten Menschen – auch gläubige Christen – den Zugang zu einer gottesdienstlichen Versammlung zu verweigern.
Wenn das so ist, dann ist es Gemeinden prinzipiell freigestellt, in der aktuellen Situation 2G oder 3G Regelungen für den Besuch des Gottesdienstes festzulegen.
Ob eine Gemeinde das tun sollte, ist eine zweite, davon separat zu betrachtende Frage. Aus meiner Sicht ist das eine Frage, die im Ermessensspielraum einer Gemeinde liegt (Mt 18,18). Wenn eine Gemeinde die Entscheidung trifft, den Zugang zum Gottesdienst aufgrund einer bestimmten Notwendigkeit zu begrenzen, dann handelt sie damit im Bereich der ihr zustehenden Autorität und steht nicht im Widerspruch zu Gottes grundsätzlichen Geboten.
Weiterführende Gedanken
Ob eine Beschränkung notwendig oder empfehlenswert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab:
- Hat die lokale Regierung Beschränkungen für Gottesdienste beschlossen? Wenn das der Fall ist und diese Beschränkungen nicht willkürlich nur für Gemeinden beschlossen wurden, sollte eine Gemeinde die Anordnungen umsetzen, weil die Regierung im Rahmen ihrer Freiheiten handelt und nicht gegen Gottes Gebote verstößt. Natürlich steht es jeder Gemeinde frei, den Rechtsweg zu beschreiten, um prüfen zu lassen, ob diese Anordnungen bezogen auf Gottesdienste tatsächlich mit deutschem Recht vereinbar sind. Das gilt erst Recht für den Fall, dass ein Beschluss sich ausschließlich gegen Gottesdienste richtet.
- Gibt es eine aktuelle Bedrohungslage vor Ort? Gibt es also z.B. lokale Ausbrüche im Gemeindeumfeld oder eine sehr hohe Inzidenzrate vor Ort? Dann sollte man freiwillige Beschränkungen in jedem Fall ernsthaft prüfen. Das hängt natürlich auch von der Zusammensetzung der Gottesdienstbesucher ab: Kommen viele ältere Besucher zum Gottesdienst? Gibt es Alternativen zum Gottesdienstbesuch vor Ort durch Livestreams?
- Alternativen zu Beschränkungen prüfen! Neben der Beschränkungen durch 3G oder 2G gibt es noch andere Möglichkeiten, um die Bedrohungssituation durch Corona zu reduzieren. Dazu gehört u.a. eine Maskenpflicht in verschiedenem Umfang (am Platz oder nur außerhalb des Platzes, welche Art von Schutzmaske etc.). Dazu gehören aber auch Fragen nach Lüftungsmöglichkeiten, Sitzordnungen, Obergrenzen für Gottesdienst-Teilnehmer, Durchführung mehrere Gottesdienste.
Welche Wege eine Gemeinde in dieser Frage beschreiten wird, hängt natürlich zuerst davon ab, wie man die Bedrohungslage durch Corona grundsätzlich einschätzt: ob man überhaupt an Corona glaubt; oder wenn man Corona für real hält: ob man davon überzeugt ist, dass Corona eine überdurchschnittliche Bedrohung für die Gesundheit darstellt.
Fazit
Jede Gemeinde braucht für die eigene Bewertung der Situation und der sich daraus ergebenden Konsequenzen viel Weisheit und Fingerspitzengefühl. Das ganze Thema ist emotional unglaublich stark aufgeladen. Daher können Gemeindeleitungen und Pastoren nicht bei den rein sachlichen Aspekten stehen bleiben. Aber eine angemessene Entscheidungsfindung ist ohne die sachliche Grundierung nicht möglich.
Die entscheidende Frage dieser Untersuchung lautete: Hat eine Gemeinde das Recht, einem Gläubigen den Zugang zum Gottesdienst zu verwehren? Das Ergebnis lautet: Eine Gemeinde hat unter bestimmten Umständen das Recht und u.U. sogar die Pflicht, Zugangsbeschränkungen festzulegen. Wann so ein Fall eintritt und wie diese Beschränkungen aussehen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Die Gemeindeleitung hat die Verantwortung, diese verschiedenen Faktoren zu prüfen, sie mit anderen Faktoren abzuwägen und eine weise Entscheidung zu treffen.
- Ich verlinke in diesem Kontext bewusst nicht auf diese „Hilfestellung“, weil ich nicht empfinde, dass dieses Dokument eine echte Hilfe für Christen darstellt. Ich überlege noch, ob ich mich in der Zukunft intensiver zu dieser „Hilfestellung“ äußern werde. ↩